Die KME zwischen Jubiläum und Lockdown

Ver-rücktes Jubiläum

Von Andreas Villiger

Am 15. Juni 1970 wurde die KME gegründet. Für das 50-Jahr-Jubiläum im Juni 2020 hätten wir viel vorgehabt, doch Covid-19 machte uns einen Strich durch die Rechnung: Kein Festredner, keine KME-Band, kein Chor. Verrückt!

Mitte März verordnete der Bundesrat allen Schulen Fernunterricht. Die Maturitätsprüfungen fielen aus, die PHZH-Aufnahmeprüfungen wurden modifiziert. So mussten wir uns von einem Tag auf den andern neu orientieren.

Wie sieht Schule jetzt aus, wenn man einander nicht sieht? Wie prüft eine Lehrperson, wenn den Studierenden sämtliche Hilfsmittel zur Verfügung stehen? Wie organisiert sich eine Studierende, wenn sie den ganzen Tag im eigenen Zimmer sitzt? Der Fernunterricht stellte uns vor völlig neue Herausforderungen, setzte aber auch ungeahnte Kräfte frei. Rasch merkten wir, dass sich der Unterricht mit digitalen Medien facettenreich und lebendig gestalten lässt.

Zeit bekam nun eine andere Qualität, weil sie sich nicht mehr nach Pausenglocke und Stundenplan ausrichtete. Und auch der Wert sozialer Kontakte erschien plötzlich in einem neuen Licht. Am Bildschirm begegnet man sich nämlich anders als im Schulhaus. Im Folgenden betrachte ich einzelne Aspekte genauer:

Digitale Medien

Der Lockdown begann für die KME am Wochenende. Simon Grünenwald, der IT-Verantwortliche, hatte am Sonntag vor dem digitalen Neustart für jede Klasse und jedes Fach in «Microsoft Teams» ein Team eröffnet. Eine Herkules-Aufgabe. Bisher hatte ich «Teams» belächelt und dachte mir: «Gewiss praktisch, aber wozu auch, wenn man die Studierenden täglich sieht?» Nun, da wir sie nicht mehr sehen konnten, wurde die Software zum Rettungsanker. Am selben Sonntag wagte die Fachschaft Französisch erste Gehversuche auf Teams.

Scheu begegneten wir uns vor dem Screen. Valeria Badilatti, die Versierteste von uns allen, konnte sogar Call und Sonntagsausflug miteinander verbinden. Noch ahnten wir nicht, dass Multitasking vor dem Bildschirm bald unser Alltag sein sollte.

Das Bedürfnis nach Einführungskursen ging plötzlich durch die Decke. Unterstützung kam vom «Digital Forum», bestehend aus vier Kolleg*innen: Elisabeth Daix, Roman Darms, Davide Pezzotta und Tobias Sauter.

«Ja, der Lockdown war bedrückend, ja, es gab Momente von Ungewissheit und Selbstzweifel, aber es gab auch eine Art Goldgräberstimmung.»

Sie stellten Lernvideos zur Verfügung, boten Support an und in kurzer Zeit fanden sich die meisten Lehrpersonen auf Teams zurecht. Der Fernunterricht konnte beginnen.

Innerhalb weniger Wochen legten viele eine beachtliche Kreativität an den Tag. Kolleg*innen erstellten Lernvideos, führten Online-Prüfungen durch und gaben ihr Wissen gleich in Foren und Teams-Besprechungen weiter.

Ja, der Lockdown war bedrückend, ja, es gab Momente von Ungewissheit und Selbstzweifel, aber es gab auch eine Art Goldgräberstimmung. Auf einmal hatten viele Lust, mit den digitalen Medien Neues auszuprobieren. Es gab – ich glaube, das darf man sagen – pädagogische Sternstunden, digitale Lektionen, die rundum aufgingen, und das tat allen gut.

Zeitsouveränität

Plötzlich hatte man Zeit, zumindest wenn nicht schulpflichtige Kinder zu Hause quengelten. Das Pendeln zwischen Wohnort und Schulhaus fiel weg. Das soziale Leben spielte sich fast ausschliesslich in den eigenen vier Wänden ab und die Studierenden arbeiteten – selbstorganisiert – an den Aufträgen, die wir für sie ersonnen hatten. Jeder konnte sich die Zeit einteilen, wie er wollte. Zeitsouveränität nennt sich das, und das klingt zwar gut, stimmt aber nicht immer. Wie Deutschaufsätze zeigen, die im Lockdown entstanden sind.

Das Thema lautete: «Seit drei Wochen herrscht in der Schweiz der Ausnahmezustand. Die Schulen sind geschlossen. Lehrpersonen und Studierende sitzen zu Hause. Dennoch wird unterrichtet und gelernt. Distance learning heisst das Zauberwort. Ist der Fernunterricht ein tauglicher Ersatz für die Schule?»

Durchaus, findet eine Studierende aus dem Basisjahr. Fernunterricht kann die Schüler optimal auf die Universität vorbereiten.

Es wird auf Eigenverantwortung gesetzt. Wer nicht genügend lernt oder nicht in die Vorlesungen geht, wird kaum lange mithalten können.

Zudem wird das individuelle Lernen gefördert. Jeder Schüler hat Stärken und Schwächen, auf diese können Lehrer nicht immer eingehen. Im Fernunterricht jedoch kann man sich für gewisse Fächer mehr Zeit nehmen und für andere weniger. Ob man sich eher morgens oder abends konzentrieren kann, ist ja bei jedem Schüler anders.

«Prokrastination macht sich jetzt andauernd bemerkbar.»

«Schaffen wir doch den Präsenzunterricht gleich ab», denke ich beim Korrigieren. Doch der Aufsatz geht weiter:Trotz all dieser Vorteile hat der Fernunterricht auch einige Nachteile. – Technik verkompliziert häufig das Lernen. Man möchte nur kurz die Hausaufgaben machen, kann das Dokument jedoch nicht öffnen oder hat eine entscheidende Mail nicht erhalten. Prokrastination macht sich jetzt andauernd bemerkbar.

 – Nicht nur das Handy kann zu einer Ablenkung werden, sondern auch die Geräusche um einen herum. Dauernd redet jemand, nebenan läuft der Fernseher und dann mäht noch jemand direkt unterm Fenster den Rasen. Dauernd wird man aus seinen Gedanken gerissen und muss wieder von vorne anfangen. Gerade in der momentanen Situation, wenn alle zu Hause sind, ist dies ein enormer Störfaktor.

Ein Studierender aus derselben Klasse sagt deshalb unverblümt:

Damit komme ich auf die grösste Herausforderung beim Homeschooling zu sprechen: die Selbstdisziplin der Teilnehmenden. Ohne diese ist der Fernunterricht dem Präsenzunterricht in keiner Weise ebenbürtig. Nicht im Schulzimmer präsent zu sein, verlangt von den Lernenden zusätzliche Motivation. So kann man z.B. die Wäsche machen und gleichzeitig via Smartphone an Videokonferenzen teilnehmen, was die Produktivität dank Multitasking erhöht. Zu denken, dass man dem Unterricht beim Sortieren der Socken dieselbe Aufmerksamkeit schenkt wie im Klassenzimmer, ist jedoch utopisch.

Wert sozialer Kontakte

Als stärkstes Argument gegen den Fernunterricht nannten die Studierenden das Fehlen sozialer Kontakte. Sie sprachen damit auch uns Lehrpersonen aus dem Herzen. Zwar kann man sich Wissen im Fernunterricht ohne Weiteres aneignen, davon bin ich überzeugt. Schule ist jedoch auch zwischenmenschlicher Austausch. Sie lebt von Beziehungen, und diese brauchen Nähe. Schule bietet Raum für Erfahrungen, die nicht allein geistiger Natur sind. Wenn ich selbst durch das Mikroskop schaue oder eigenhändig ein physikalisches Experiment aufbauen darf, dann entsteht unersetzlicher Mehrwert.

Man tauscht sich aus, ist in Kontakt mit der Lehrperson und den Kollegen. Ein Studierender schreibt:
Die Vorträge und Erläuterungen der Lehrer fallen online öfters knapp aus. Zusätzlich zu den fehlenden Interaktionen im Klassenzimmer fehlen auch der Austausch und die Diskussionen mit den Mitstudierenden in den Pausenzeiten. Wir unterhielten uns und hinterfragten das Gelernte, wodurch ich oftmals neue Schlussfolgerungen ziehen konnte. Diese Interaktionen kann Microsoft Teams nicht ersetzen.

«Die KME hat im Lockdown viel gelernt.»

Gerade das vermeintlich Banale, die Plauderei beim Mittagessen oder der Witz in der Kaffeepause, schuf Nähe, stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl.

Es steht ausser Frage: Die KME hat im Lockdown viel gelernt. Dennoch sind wir alle froh, dass der Präsenzunterricht die Regel bleibt. Kein Anlass hat dies so deutlich gemacht wie die Maturfeier 2020. Nach vier Monaten im virtuellen Raum begegneten wir unseren Studierenden wieder richtig.

Maturzeugnisse gab es auch ohne Prüfung. Ein Festredner gratulierte, Musik erklang und überall glückliche Gesichter. Ein Hauch von Normalität stellte sich ein.

Feiern sind wichtig. Auch wenn das vergangene Schuljahr als das Jahr der Pandemie in Erinnerung bleiben wird, so haben wir den Geburtstag der KME nicht vergessen. Der Termin im Kalender wurde zwar verrückt, doch wir lassen uns nicht verrückt machen – nein: Wir sind entschlossen, das 50-Jahr-Jubliäum zusammen zu feiern, komme, was da wolle.

Text: Andreas Villiger, ein grosses Dankeschön an Regina Peter für die sorgfältige Überarbeitung
Bilder: Zeichnungen der Serie «Selfies», die im BG-Unterricht von Ute Lünsmann entstanden sind.