Podiumsdiskussion vom 10. November 2020

Matura für alle?

Von Miguel Garcia

Das schweizerische Bildungswesen ist seit jeher geprägt von Ungleichheiten. Die KME wurde 1970 gegründet, um Personen auf dem zweiten Bildungsweg die Matur zu ermöglichen und damit zur Chancengerechtigkeit beizutragen. Ein prominent besetztes Podium diskutierte anlässlich des Schuljubiläums über den Stellenwert der Matur in der heutige Bildungslandschaft.
Die Maturquote ist ein Dauerbrenner in der Schweizer Bildungsdiskussion.

Denn dahinter steckt die Frage der Chancengerechtigkeit unseres Schulsystems. In seinem Buch «Matura für alle» fordert der Zuger Kantonsschullehrer Andreas Pfister deshalb, dass möglichst alle Jugendlichen eine Fach-, Berufs- oder gymnasiale Matur haben sollten. Anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten der KME diskutierte er seine Thesen auf einem Podium mit der Intelligenzforscherin Elsbeth Stern (ETHZ) und dem Bildungsphilosophen Roland Reichenbach (UZH).

«Mehr Menschen mit höheren Abschlüssen machen das Bildungssystem nicht gerechter.»

Mehr heisst nicht besser

«Mehr Menschen mit höheren Abschlüssen machen das Bildungssystem nicht gerechter», sagte Reformkritiker Reichenbach zu Beginn des Gesprächs unter der Leitung des langjährigen KME-Englischlehrers Urs Stähli. Auch Stern zeigte sich skeptisch gegenüber der Ausweitung des Begriffs «Matura»: «Damit werden Unterschiede in der Intelligenz verdeckt, die genetisch bedingt sind.» Eine substanzielle Erhöhung der Maturquote lehnte sie folglich ab.


Roland Reichenbach, Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich


Elsbeth Stern, Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich

«Die Ungleichheit würde damit eher noch verstärkt.» Es seien schliesslich nicht alle für das abstrakte Denken an einem Gymnasium oder an einer Universität geeignet, und Jugendliche aus gut situierten Verhältnissen könnten sich noch mehr als heute durch Förderunterricht einen Vorteil verschaffen.

««Es gibt viele aus bildungsfernen Milieus, die nicht wollen.»

Wider das «Geissenpeter-Syndrom»

Um die hinderlichen Herkunftseffekte, die Pfister als «Geissenpeter-Syndrom» bezeichnet, zu reduzieren, beinhaltet sein Vorschlag eine Ausdehnung der Schulpflicht bis zum Alter von 18 Jahren. «Es gibt viele aus bildungsfernen Milieus, die nicht wollen. Diese muss man verpflichten, wie es vor 200 Jahren die Schöpfer der allgemeinen Schulpflicht wollten», sagte der Deutschlehrer und Bildungsjournalist.


Andreas Pfister, Lehrer an der Kantonsschule Zug und Buchautor


Moderator Urs Stähli, ehemaliger Englischlehrer an der KME und Präsident der Schulkommission Zürcher Unterland

Lehr- und Lernforscherin Stern verortete das Problem eher bei den Lehrpersonen, denen es nicht gelingt, Intelligenz in Schulleistung umzumünzen. Erziehungswissenschaftler Reichenbach sah ebenfalls Verbesserungspotential in der Lehrer*innen-Ausbildung: «Fördern hat mit fordern zu tun. Wenn man das Leistungsprinzip vernachlässigt, ist das das Gegenteil von fördern.»

Einhellig begrüsst wurden Massnahmen wie das Projekt «Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn» (ChagALL) für jugendliche Migrant*innen am privaten Gymnasium Unterstrass Zürich. Auch die Rolle der KME für den zweiten Bildungsweg wurde gewürdigt. Wichtig sei, so Stern, dass die Abgänger*innen danach effektiv studierten. Reichenbach warnte indes vor einer Überschätzung formaler Abschlüsse: «In der Bildung geht es vor allem um das Interesse an der Welt.»

Brüche in der Lernbiografie sah er dabei nicht als problematisch – im Gegenteil: «Umwege machen ortskundig.» Andreas Pfister betonte zum Schluss des Podiums ebenfalls die Bedeutung von Änderungen in der Bildungslaufbahn. «Man taucht mit dem Wechsel an die KME in eine neue Welt ein und ist in dieser Situation verunsichert und verletzlich. Dafür sollte man Verständnis aufbringen.»


 

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Text: Miguel Garcia
Bilder: Roberto Huber